Meine Zungenspitze stubst das erste Mal sanft, geradezu zögerlich gegen die seine. Ich bin, zumindest in einem gewissen Maß, vorsichtig. Er ist es ebenso und einmal mehr drängt sich mir der Gedanke oder vielmehr das Gefühl auf, dass wir neu erkunden wie der andere schmeckt, wie der andere reagiert und wie weit wir gehen können bis der andere uns vielleicht Einhalt gebietet - etwas das weder er noch ich bisher getan haben. Ich will mehr und so küsse ich ihn auch nach wenigen Sekunden inniger. Meine Zunge tanzt mit der seinen. Immer wieder entziehe ich ihm die meine, nur um dann doch wieder die seine zu suchen. Er lässt sich darauf ein. Er reagiert sogar und fordert mich nicht weniger heraus als ich ihn. Inzwischen bin ich ihm so nahe, schmiegt sich mein Körper derart an den seinen, dass er spüren wird, dass meine Atmung, auch wenn ich sie keinen Einfluss auf unseren Kuss nehmen lasse, schneller geht. Meine Hand, die zuvor noch auf seinem Bauch lag, ist zu seiner Seite geglitten. Es war eine ganz natürliche Bewegung, als wir uns näher aneinander geschmiegt haben. Meine andere Hand, endlich frei zu tun was ich damit tun möchte, lege ich an seine Wange. Seine Haut unter meinen Fingern ist glatt. Er ist rasiert - eine Kleinigkeit, die ich nur ganz am Rande wahrnehme und augenblicklich wieder vergesse. Die Tatsache, derer ich mir jedoch mehr als bewusst bin, ist, dass mich dieser Moment alles andere vergessen lässt. Wir stehen hier eng aneinander geschmiegt, seine Hand in meinem Haar und seine andere an meinem Rücken. Ich selbst berühre ihn an seiner Seite und an seiner Wange. Es ist ganz offensichtlich, dass wir nicht genug von den Lippen des jeweils anderen bekommen können und all das, dieser ganze herrlich knisternde Moment ist etwas, womit ich nicht gerechnet habe. Wie lange er andauert bis ich ihn leider unterbrechen muss? Eine süße, köstliche Ewigkeit. Und selbst als ich den Kuss unterbreche, tue ich das nicht indem ich mich von ihm löse oder dergleichen. Ich bin ihm noch genauso nah wie zuvor. Mein heißer Atem prallt gegen seine Lippen, die von unserem Kuss wohl ebenso feucht sind wie die meinen, und eben diese schnellen Atemzüge verraten ihm wohl warum ich den Kuss unterbrochen habe.
Als sie den Kuss löst, öffne ich nicht direkt meine Augen, sondern lasse sie noch einen Moment geschlossen und genieße es wie nah wir uns immer noch sind. Das war ein verflucht guter Kuss. Jeder Kuss von ihr ist besser als der vorherige. Wir atmen beide sehr schnell und ich spüre wie erhitzt mein Körper ist. Dann öffne ich langsam meine Augen und sehe direkt in ihre. Auch wenn ich es in diesem Licht nicht richtig erkennen kann, weiß ich dass ihre Augen ein kräftiges Grün haben und immer aufmerksam sind. Wir haben uns bei unseren letzten Begegnungen so oft in die Augen geblickt, dass ich diese wirklich sehr deutlich vor mir sehe. Ein kleines Lächeln umspielt meine Lippen sie bekommt noch einen kleinen, sehr sanften Kuss. "Ich bin froh, dass du hergekommen bist." Ich hätte mich das wohl nicht getraut. Selbst wenn ich gewusst hätte wo sie wohnt. Doch jetzt war ich sehr froh, dass sie hier sie war. Meine Hand hat sich wieder an ihre Wange gelegt und mein Daumen streicht hauchzart über ihre weiche Haut. Wieder wandert mein Blick über ihr Gesicht, dass ich in dem Licht nur teilweise sehen kann. Und wieder einmal stoppe ich bei ihren Augen. Ganz leicht streicht meine Zunge über meine Lippen und ich kann sie doch auf diesen schmecken. "Du solltest hier bleiben. Damit ich dich noch viel öfter küssen kann." Nun ist mein Grinsen gar nicht mehr so leicht und ich neige leicht meinen Kopf, während ich meine Lippen übereinander rolle. Ich würde auch auf der Couch schlafen, wenn ihr das lieber wäre. Doch wir wissen beide, dass es schon spät ist und ich möchte sie gerade noch nicht gehen lassen. Ich will sie nochmal küssen und danach am liebsten nochmal. Und irgendwann wird es zu spät oder besser gesagt zu früh sein, um sich aus dem Haus zu schleichen. Mein Gesicht nähert sich wieder dem Ihren und ich streiche mit meinem Lippen ganz leicht über ihre. "Hm? Was meinst du?" Sie bekommt noch einen kleinen Kuss und dann beginne ich sehr sanft an ihrer Unterlippe zu zupfen.
Er zupft nicht nur höchst verführerisch an meiner Unterlippe, sondern auch an meiner Selbstbeherrschung. Dessen ist er sich bewusst oder? Ich habe so das Gefühl, dass er sich dessen nur allzu sehr bewusst ist. Er scheint sehr vieles ganz bewusst zu tun. Die Art und Weise wie er mir immer wieder in die Augen blickt. Die Art und Weise wie er mich immer wieder berührt. Dieser Mann, ob nun bewusst oder unbewusst, scheint es perfektioniert zu haben mir im richtigen, im verführerisch, verlockenden Maße Aufmerksamkeit zu schenken, sich zu nehmen ohne dabei aufdringlich zu sein und dabei genau das zu bekommen was er will. Eine Art, dass muss ich mir eingestehen, die mich wirklich schwach macht. So schwach, wie ich es schon eine ganze Weile bei einem Mann nicht mehr war. Ein leises Seufzen verlässt meinen Mund und ich öffne ganz langsam meine Augen. "Das klingt über alle Maßen verlockend.", wispere ich gegen seine Lippen. Meine Hände, inzwischen beide auf seiner Brust liegend, bewegen sich einige Millimeter auf dem Stoff seines Shirts. "Aber ich werde jetzt gehen." Meine Augen schließen sich noch einmal und ich hauche einen kleinen Kuss auf seine Lippen. Den letzten? Für heute? Für immer? War dieser Abend eine Ausnahme? War er ein Resultat der Umstände? All das sind Fragen mit denen ich mich beschäftigen werde. Nur nicht mehr heute Nacht. Ich öffne meine Augen wieder und löse mich ganz langsam von ihm. Ich spüre sofort, wie mir meine Bewegungen seine Wärme entziehen. Ich stelle mich wieder gerade hin, streiche mir mit meiner rechten Hand einmal durch mein Haar und schüttel es dabei auf. "Danke." Ich trete einen Schritt zur Seite und greife nach meinem Weinglas. Ein Schluck ist noch darin und diesen trinke ich nun - ihn dabei zu keiner Sekunde aus den Augen lassend. "Für den Wein." Meine Zungenspitze streift einmal über meine Lippen und fängt einen Tropfen ein, der sich in meinen Mundwinkel verirrt hat. Derweil stelle ich das nun leere Glas zurück. Ich beginne langsam einige Schritte rückwärts zu gehen. Gerade so viele wie ich sie mir in einer unbekannten Wohnung zu traue. Erst als ich mich dann umdrehe, um meine Jacke von der Couch zu holen, reißt der Blickkontakt ab. Ich streife meine Jacke über und ziehe noch meine Haare unter dem schweren Material hervor, um sie zu befreien und sie über meine Schultern fallen zu lassen. Als ich damit fertig bin, gehe ich noch einmal zu ihm hin. Er hat sich nicht bewegt, sondern steht noch genauso lässig gegen das Klavier gelehnt da wie zuvor. Ich bleibe vor ihm stehen, strecke meine Hand aus und greife nach dem Zipfel seines Hemdes, um einmal sanft daran zu ziehen. "Wir sehen uns, hm?" Ich lasse sein Hemd wieder los, zwinker ihm noch schmunzelnd zu und gehe dann. Bei jedem meiner Schritte bin ich mir der Tatsache bewusst, dass er mir hinterher sieht. Ich spüre seinen Blick in meinem Rücken und obwohl die Versuchung sich noch einmal umzudrehen groß ist, tue ich es nicht. Als ich seine Wohnung dann verlasse, schließe ich ganz leise seine Tür. Ich gehe die Treppen hinunter und während ich das tue, noch immer darum bemüht möglichst leise zu sein, um niemanden auf mich aufmerksam zu machen, kommt mir in den Sinn, dass ich eigentlich zu alt dafür bin, um mich mitten in der Nacht aus der Wohnung eines Studenten zu schleichen. Etwas womit ich mich aber auch erst Morgen näher beschäftigen werde. Nun geht es erst einmal nach Hause und ins Bett.
Ich habe keine Ahnung wie lange ich da noch stehe und die Tür anstarre, durch die sie vor geraumer Zeit gegangen ist. Kein Wort hatte ich zu ihr gesagt, nachdem sie meinte, dass sie jetzt geht und dann auch gegangen ist. Ich hatte wirklich gehofft, dass sie hierbleiben würde, dass sie mich nochmal küssen würde. Aber anscheinend hatte ich da einige Signale doch etwas falsch gedeutet. Ich sollte da wirklich nicht so viel drüber nachdenken. Eigentlich kenne ich sie gar nicht und es waren nicht mehr als ein paar wirklich gute Küsse - wenn man die Geschehnisse von vor fünf Jahren mal außer acht lässt. Sie hatte mir eigentlich von Anfang an klar gemacht, dass dies niemand wissen soll und heute Abend... war es vielleicht einfach die Stimmung, der Alkohol. Ich weiß es nicht. Was ich weiß, dass ich jetzt allein in dieser Wohnung bin. Ich nehme ihr leeres Weinglas und bringe es in die Küchenzeile und hole dann doch noch die Flasche heraus, um mich mit dieser und meinem Wein auf den Balkon zu setzen. Schlafen würde ich jetzt eh nicht können - das funktioniert allgemein noch nicht so gut in dieser Wohnung und der Wein wird helfen, dass die Gedanken sich irgendwann beruhigen. Solange genieße ich doch noch die Stille und trinke meinen Wein.
Ich weiß wo dieser Hocker stehen wird. Er weiß wo dieser Hocker stehen wird. Dennoch bin ich gerade dabei auf seine Aufforderung hin seinen Haustürschlüssel aus seiner rechten Tasche zu holen, weil ich trotz der Tüten ein wenig mehr Handlungsspielraum habe als er. "Hab ihn.", verkünde ich als ich ihn mit meinen Fingerspitzen berühre. Wir sind uns sehr nahe, weil ich immerhin an seiner Hosentasche bin, aber dieses Mal bringt mich dies dazu leise zu lachen und nicht daran zu denken, was man mit so viel Nähe anstellen könnte. Es hat nichts damit zu tun, dass wir auf offener Straße stehen und uns jemand sehen könnte, sondern mit der Situation. Wir sind vollbepackt und versuchen nichts abzustellen, sondern einfach irgendwie alles mit einem Mal in seine Wohnung zu bekommen. "Alles klar. Alles klar. Hier ist er." Ich habe ihn aus seiner Tasche gezogen und klimpere nun damit herum. Die Tür ist relativ schnell aufgeschlossen und ich halte sie ihm auf, damit er mit dem Hocker vorgehen kann. Vor seiner Tür wechseln wir dann wieder die Position und ich schließe auch diese auf. Dieses Mal gehe ich vor, gerade soweit das er folgen und dann an mir vorbeigehen kann - so kann ich nun noch die Tür hinter uns zu machen. "Wo soll ich dir den Schlüssel hinlegen?"
Das war wirklich eine großartige Szene. Ich hatte nur sagen wollen, dass ich den Hocker absetzen könnte, da hat sie es schon verneint und gemeint, dass sie es schafft. In dem Moment haben wir so gelacht, dass ich gar nicht realisiert hatte wie nah wir uns waren und wo ihre Hände da herumgewühlt hatten. "Leg sie einfach den Tisch." Tatsächlich hatte ich noch keinen festen Platz für meine Schlüssel. Doch jetzt schon ich meinen alten Klavierhocker, der eher ein Schemel ist, mit meinem Bein zur Seite und stelle den neuen vor den Flügel. Mit den Tüten in der Hand gehe ich ein paar Schritte zurück und schaue mir das Gesamtbild an. "Sieht gut aus, oder?" Zufrieden und leicht strahlend schaue ich zu ihr. Dann stelle ich die Tüten ab und gehe zurück zu dem Hocker und setzte mich darauf. Ich hatte vorhin kurz drauf gesessen und Mia hatte Kevin erklärt, dass ich doch sicher Rückenscherzen bekomme, da es gar keine Lehne gibt. Der Gedanke daran lässt mich schmunzeln. "Komm her. Er ist wirklich bequem." Ich rutsche etwas zur Seite, sodass sie auf jeden Fall genug Platz neben mir haben wird. "Willst du deine Belohnung direkt? Oh und willst du etwas trinken?" Der Hocker hat mich abgelenkt und mich kurz meine Manieren vergessen lassen.
"Er ist wirklich sehr bequem." Ich sitze direkt neben ihm auf dem Hocker. Er ist nicht sehr groß, doch reicht für uns beide. Unsere Hüften berühren sich. Unsere Beine. Eigentlich einmal unsere Seiten längs. Ich bin mir dieser Nähe voll und ganz bewusst - mit jeder Faser meines Körpers und doch schenke ich ihm meine Aufmerksamkeit. Ihm als Person und nicht der Nähe seines Körpers. Er scheint glücklich zu sein. Sehr begeistert von diesem Hocker - das lässt mich leise lachen. "Ich möchte gerade nichts trinken. Danke dir." Aber es ist sehr zuvorkommend, dass er mich fragt. "Gegen die Belohnung hätte ich jedoch nichts." Ich habe ihn bereits auf einem Video spielen hören und sehen, doch noch nicht live. Es war, als ich das letzte Mal hier war, einfach viel zu spät in der Nacht. Doch jetzt? "Ich würde mich sehr freuen, wenn du mir etwas vorspielen würdest." Ich schaue von dem Klavier vor uns zu ihm. "Soll ich dafür lieber aufstehen damit du genug Platz hast?"
Ich grinse leicht bei ihrer Antwort und sehe sie an. "Es stört mich nicht, wenn du hier sitzen bleibst. Wirklich nicht. Aber du kannst dich auch gern woanders hinsetzen." Ganz leicht bewegt mein Bein sich an ihrem und irgendwie hoffe ich, dass sie hierbleibt und sich nicht woanders hinsetzen. "Was möchtest du hören?" Wieder grinse ich sie an. "Komm, such dir irgendein Lied aus, von dass du jetzt gern hören würdest." Selbst wenn ich es nicht kenne, finde ich online sicher eine Piano Version oder ich höre es mir an und versuche es dann. Mein musikalisches Gehör ist sehe gut ausgeprägt und ich muss einen Song meist nur einmal hören um ihn spielen zu können. Wo die Töne zu finden sind wüsste ich blind. Ich kenne nichts so gut wie ein Klavier.
"Ich kenne namentlich eigentlich keine Klavierstücke. Mal abgesehen von den üblichen, die alle kennen." Ich schaue wieder von dem Klavier, von den Tasten um genau zu sein, zu ihm hin. "Außerdem möchte ich lieber etwas hören, dass ich noch nicht kenne. Eines für diesen Moment.", antworte ich meinem ersten Impuls folgend. Eines, dass ich mit noch nichts anderem verbinde. Wieder schaue ich zu den Tasten. "Du kennst doch bestimmt unzählige oder?" Ich strecke meine linke Hand aus und berühre mit meine Zeigefinger ganz vorsichtig, gerade zu andächtig eine Taste. Es dauert eine Sekunde bis ich sie einfach so hinunter drücke und ein Ton, den ich nicht benennen kann, erklingt. Ich beginne zu schmunzeln. "Los. Spiel etwas.", fordere ich ihn auf. "Warte. Oder meintest du gar kein klassisches Stück, sondern wirklich irgendeinen Song?" Wobei das meinen Wunsch nicht ändern wird. "Du kannst doch nicht wirklich jeden Song, der mir einfallen würde spielen oder?" Es wäre spannend das herauszufinden, aber nein. Ich bleibe dabei. Ich möchte etwas hören, dass ich noch nicht kenne.
Ich sehe sie an und grinse vor mich hin. Ich überlege noch was ich spielen soll, als sie mich noch etwas fragt. Wieder muss ich lachen. "Ich würde nicht sagen alles. Aber fast." Ich zwinkere ihr zu und überlege welches Stück ich spielen soll. Kurz geht mein Blick nochmal zu ihr, doch dann schaue ich wieder auf die Tasten. "Es ist... noch nicht fertig. Also nicht wundern." Ich schreibe schon einige Zeit an diesem Stück und hoffe wirklich, dass es irgendwann fertig wird und ich es zum Abschluss einreichen kann. Bisher habe ich es noch niemanden wirklich vorgespielt, doch irgendwie möchte ich es ihr jetzt vorspielen. Vor allem kann ich mir sicher sein, dass sie es nicht kennt und es nur für diesen Moment ist. Ich beginne zwar etwas anders und zwar mit dem Ton, den sie gerade benutzt hat, finde dann aber schnell in das Stück und spiele es. Bisher kenne nur ich es und jetzt spiele ich es nur für sie.
Just in dem Moment, in welchem er seine Hände hebt, lasse ich meine Hand rasch sinken. Ich lege meine Hände nun beide auf meine Oberschenkel - ohne sie eines Blickes zu würdigen, denn den habe ich gerade nur für seine Finger übrig. Irre ich mich oder beginnt er mit dem Ton, den ich gerade angestimmt habe? Ich frage nicht, denn ich möchte ihn nicht unterbrechen. Es klingt wunderschön. Mein Blick wandert von dem Klavier zu seinem Gesicht und er sieht irgendwie gut aus. Anders gut. Selbst wenn mein Leben davon abhängen würde, könnte ich nicht beschreiben wie er aussieht - einfach anders. Ich senke meinen Blick wieder und beobachte stattdessen seine Finger dabei, wie sie über die Tasten fliegen, doch das kann mich nicht davon ablenken, dass sich das was er da spielt wirklich großartig anhört. Die verschiedenen Töne. Das Zusammenspiel. Ich schließe meine Augen und konzentriere mich einen Moment nur auf meinen Hörsinn. Es ist... noch nicht fertig. meinte er. Also ist dieses Stück von ihm? Das muss ich ihn auf jeden Fall noch fragen - nur nicht jetzt.
Kaum habe ich begonnen zu spielen, habe ich Mia mehr oder weniger ausgeblendet. Das Spielen ist wohl das einzige was mich noch mehr ablenkt als sie. Es ist ein schönes Stück, mal schneller, mal langsamer aber immer mit fröhlichen Melodien. Dennoch nehme ich sie neben mir wahr, auch wenn sie sich so gut wie gar nicht bewegt. Ich bin mir auch ziemlich sicher, dass sie mich zwischendurch ansieht. Es stört mich überhaupt nicht. Wieso auch? Sie unterbricht mich nicht oder sucht nach Aufmerksamkeit, was mich eventuell wirklich ablenken würde. Sie lauscht dem Spiel, auch wenn es nach einigen Minuten - ich habe etwa 8 fertig - auch schon vorbei. Als ich versuche wieder auf dem Ton zu enden, den sie mir gegeben hat, muss ich meine Hand etwas verränken und lache dabei. "Nächstes mal suchst du dir einen leichteren Ton aus." Ich sehe sie an und schmunzel. Mir ist bewusst, dass sie den Ton nicht bewusst gewählt hatte und sie wusste ja auch gar nicht, dass ich diesen nutzen wollte. Ganz leicht drehe ich mich zu ihr und da meine Hände nicht mehr auf den Tasten sind, berühren sie sie ganz leicht. "Willst du noch etwas hören?" Wenn sie will spiele ich ihr den Rest des Tages, die ganze Nacht und auch morgen noch etwas vor.
Also habe ich mir das doch nicht eingebildet. Er hat mit dem Ton begonnen und geendet, den ich zufällig ausgewählt und deren Taste ich gedrückt hatte. Ich lache leise. "Auf jeden Fall." Unsere Blicke treffen sich und ich beginne genauso zu schmunzeln. "Das war wundervoll Tristan." Das meine ich ehrlich und von ganzem Herzen. Ich verspüre schon immer tiefen Respekt für Menschen, die in irgendeiner Form künstlerisches Talent haben und es nutzen, dennoch würde ich kein Lob oder meinen Gefallen aussprechen, wenn ich es nicht wirklich so empfinden würde. "Du hast das komponiert?" Ich muss einfach nachfragen. Es klang gerade irgendwie so. Als er es bejaht, staune ich nicht noch mehr. "Wie lange dauert so etwas? Also der Schaffungsprozess. Und wann weißt du, dass du fertig bist?" Ich schmunzel sogar noch mehr. "Diese Fragen stellt dir wahrscheinlich jeder Mensch oder?" Ich schaue von ihm zu dem Klavier und wieder zurück. "Also wenn du noch etwas spielen würdest, würde mir das gefallen." Aber er muss nicht.
"Danke." Es freut mich, dass es ihr gefallen hat. Als sie das letzte Mal auf dem Handy geschaut hatte, konnte ich ihre Reaktion beobachten. Dieses Mal konnte ich das nicht. Ich nicke auf ihre Frage hin, doch sie schiebt direkt noch weitere Fragen hinterher. Nun muss ich wirklich etwas lachen. "Wie vorhin schon gesagt: Frag ruhig. Und tatsächlich wird das nicht so oft gefragt. Allerdings spiele ich auch nicht so oft für einzelne Personen." Ich zwinkere ihr zu. "Ich schreibe schon sehr lange an dem Stück und ich habe keine Ahnung, wann es fertig sein wird." Ich muss wieder lachen. "Die Idee ist schöne Stunden/Tage/Wochen in einem Song zu vereinen. Dinge, die ich erlebt habe in Töne zu packen, ihnen eine Melodie zu geben und daraus ein ganzes Lied zu machen." Ich lächle etwas und die Finger meiner rechten Hand streichen leicht über die Tasten des Klaviers. "Urlaub bei meinen Großeltern in Frankreich, eine Sommerliebe, ein toller Tag mit Freunden am See, mein Abschulss - erst Schule, dann Uni, Kennenlernen von wichtigten Menschen, Weihnachten mit meiner Familie..." Wieder muss er lachen. "Als mein Dad mir ein Kuscheltier geschenkt hat oder mein erstes Mal an einem Klavier. Und zum Glück erlebe ich immer wieder solche Momente. Nicht alle werden es in das Lied schaffen und ich hoffe einfach, dass es sich irgendwann fertig anfühlt." Ganz leicht beiße ich mir auf meine Unterlippe und drehe mich wieder mehr zum Klavier und fange wieder an [URL= https://www.youtube.com/watch?v=cOsq17ScQp4]zu spielen.[/URL]
Ich lasse es mir nicht anmerken, aber seine Erklärung berührt mich. Ich bin mir der Tatsache bewusst, dass die folgende Überlegung total oberflächlich ist, aber ich hätte jemandem in seinem Alter nicht solche Gedanken zugetraut. Ich bin nicht stolz darauf. Vielleicht liegt es auch einfach daran, dass ich in dem Alter nicht so war. "Ich... bin gespannt, wie es klingen wird, wenn es sich irgendwann fertig für dich anfühlt." Wenn ich denn dann erfahre, wie es klingt. Schließlich kann es Tage, Monate, Jahre dauern bis es soweit ist. Mein Blick ist immer noch auf ihn gerichtet und mit einem Mal erscheint er mir älter. Es ist seltsam. Ich könnte auch dieses Gefühl nicht beschreiben. Es ist albern und liegt gewiss nur daran, dass ich - wie bereits erwähnt - auf Klavier- und Violinenmusik stehe und er mich mit seinem Stück und den Gedanken dazu gerade beeindruckt hat. Dann neigt man ja manchmal dazu gefühlsmäßig mit einem Mal sensibler auf Dinge zu reagieren. Als er von Neuem beginnt zu spielen, schaue ich ihn noch einen Moment an. Er spielt nicht nur mit den Händen. Seine Haltung und seine Mimik sind auch anders als zuvor. Warum auch immer mir dieses Detail auffällt, aber seine Locken bewegen sich. Ich kann nicht sein gesamtes Gesicht im Profil sehen und ich verspüre das beinahe unbändige Bedürfnis ihm die Locken fort zu streicheln. Doch ich bändige es. Ich tue es nicht, sondern schaue wieder auf seine Hände. Seine Finger bewegen sich über die Tasten und spielen einen Song, den ich sehr liebe. Das kann er natürlich nicht wissen. Meine Lippen formen sich zu einem Lächeln - zu einem echten.