Das kann gar nicht sein, denn ich bin der glücklichste Mensch auf der Welt. Ich denke die Worte jedoch nur, weil ich meiner Stimme noch nicht vertraue. Sie mutet ganz gewiss heiser und brüchig an, wenn ich denn überhaupt ein Wort herausbekomme. Ganz langsam und behutsam löse ich meine rechte Hand aus der seinen, um sie dann an seinen Hinterkopf zu legen. Ich streichle sanft durch sein Haar. Seine Worte lassen es mich nun doch hinkriegen, dass meine Lippen sich zu einem richtigen Lächeln formen. "Ich bin so froh, dass du glücklich bist." Ich hatte recht. Ich habe zwar diesen Satz mehr oder weniger herausbekommen, aber meine Stimme klang dabei ganz genau so wie ich mir vorgestellt hatte das sie klingen würde. Hat er mich überhaupt verstanden? Das er exakt in dem Moment, in welchem ich mir gedanklich diese Frage stelle, einen weiteren Kuss an meinen Hals haucht, werte ich als Zeichen dafür, dass er mich verstanden hat. Ich schließe meine Augen wieder, atme zufrieden ein und aus und streichel dabei immer wieder zärtlich durch seine Locken.
Ich erwidere ihren Kuss und muss lächeln, weil es mein Herz wie verrückt schlagen lässt, wenn sie Ich liebe dich zu mir sagt. Dann bringt sie mich wirklich etwas zum Lachen. "Ich rufe uns einen Uber."
Eine viertel Stunde später schließe ich die Tür zu meiner Wohnung auf und lasse sie eintreten. Wir ziehen unsere Schuhe aus und auf dem Weg zum Schrank, öffne ich schon mein Hemd. Ich will wirklich raus aus diesen Sachen. Ich greife nach einem meiner Shirts und einer grauen Sweatpant und reiche ihr beides. Sie sieht mich irrtiert an. "Zieh das an. Ich weiß, dass du es gern trägst." Sie soll es sich bequem machen. Auch ich ziehe mich um: T-Shirt und Shorts. Das tut wirklich gut. Dann gehe ich an ihr vorbei in die Küche und mache mich daran Zitronenwasser fertig zu machen. Lass mich... Sie verstummt, nachdem sich unsere Blicke treffen. Doch dann muss ich lächeln. "Dir wird das jetzt nicht gefallen, aber ich lasse da nicht mit dir reden. Du machst es dir jetzt bequem und ich kümmere mich um dich. Mia! Pscht! Keine Widerworte. Du machst es dir bequem - wo du willst." Ich stelle das Wasser in den Kühlschrank, damit es noch etwas durchziehen kann und gehe dann zu ihr. Natürlich hat sie sich nicht bewegt. "Du warst die letzten Tage für mich da. Ich weiß, dass du mich über alles gestellt hast. Wieder einmal. Auch über dich. Also lass mich das jetzt bitte tun. Dank dir habe ich das alles überstanden. Doch ich weiß, dass das auch für dich nicht einfach war. Du musst nicht mit mir darüber reden, wenn du es nicht willst. Aber dann kümmere ich mich anders um dich. Ich mache dir jetzt eine Erdbeermilch, du machst es dir bequem und dann spiele ich dir den Song vor. Er ist nämlich fertig." Ich lächle leicht und beuge mich zu ihr hinunter und streiche mit meiner Nasenspitze sanft über die ihre. "Bitte lass mich auch mal für dich da sein." Sie gibt mir so viel. Sie ist immer da, wenn ich sie brauche. Ich habe ihr ganz am Anfang gesagt, dass sie aufpassen muss sich selbst nicht zu verlieren. Doch darauf muss ich aufpassen. Es hat sie belastet, dass ich mir Drogen gekauft habe. Es hat sie belastet, was im Vanilla passiert ist, das heute und die letzten Tage hat sie belastet. Sie spricht mit mir nicht darüber. Ich weiß nicht, ob sie es nicht will oder ob sie mich einfach nicht belasten will. Ich wünschte wirklich, dass ich so für sie da sein könnte wie sie für mich. Das heute wird nicht alles gut machen, dessen bin ich mir auch bewusst. Aber ich möchte ihr einfach etwas gutes tun. Ich möchte, dass sie der Mittelpunkt ist, um den sich alles dreht. "Bitte Mia."
"Aber...", versuche ich es ein letztes Mal, doch sein Blick und sein Bitte Mia. lassen mich verstummen. Er möchte für mich da sein und sich um mich kümmern, was er übrigens schon einige Male sehr liebevoll getan hat - zum Beispiel nach dem Vorfall im Vanilla -, und ich verstehe das sehr gut. Ich möchte all das auch für ihn. Aber kann ich von ihm erwarten, dass er mich für sich da sein lässt, wenn ich es ihm andersherum verweigere? Was wäre, wenn er sich immer dagegen sträuben würde, wenn ich ihm eine Stütze sein und etwas Gutes für ihn tun möchte? Es würde mich verletzen. Würde es ihn verletzen, wenn ich mich nun weigern und mich stattdessen um ihn kümmern würde, weil so anstrengende Tage hinter ihm liegen, die heute in dem anstrengendsten Tag überhaupt gipfelten? "Es ist fertig?", greife ich seine Worte von zuvor wieder auf und meine Lippen zucken zu einem kleinen Lächeln in die Höhe. "Wirklich?" Ich kann es immer noch nicht fassen, dass er ein Stück komponiert hat. Dieser Mann ist so kreativ und talentiert. Und nicht nur irgendein Stück, sondern ein Stück das er unserer Beziehung gewidmet hat. Allein bei dem Gedanken daran schlägt mein Herz einmal mehr kräftiger. Meine Worte muten vielleicht ein wenig kleinlaut an, was so viel heißt wie, dass er gewonnen hat, aber ich das nicht ausspreche. Vielleicht können wir uns auch einfach gegenseitig um einander kümmern. "Ich würde mich schon sehr freuen es ganz zu hören."
Ich bin nur froh, dass sie mir nicht widersprecht. Mir war vorher schon bewusst, dass ich kein ja hören werde. Dennoch muss ich lächeln, als sie meint, dass sie es hören möchte. Bisher hat sie nur einen Teil per Sprachnachricht gehört. Doch seitdem habe ich noch einiges geändert, verfeinert und vor allem hatte sie nur einen Teil gehört. "Dann setz dich schon einmal hin." Ich gebe ihr einen kleinen Kuss und lächle sie an. Sie geht tatsächlich zu dem Sessel, den ich für sie geholt habe. Wenn sie auf dem Bett oder Couch sitzt, dann kann sie mich nicht sehen und ich sie nicht. Also habe ich einen großen gemütlichen Sessel besorgt, auf dem sie es sich bequem machen kann. Es steht auch ein kleiner Tisch daneben und auf diesen stelle ich nun die Erdbeermilch drauf, die ich ihr eben noch zubereitet habe. Ich bin etwas nervös. Tatsächlich habe ich hier und da mal was geschrieben, doch abgesehen von meinem Endlosstück ist nie wirklich viel dabei herumgekommen. Dieses Lied ging so schnell. Es war einfach in meinem Kopf, dann auf den Tasten und dann auf dem Papier. Ich setze mich an das Klavier und sehe zu ihr. Sie lächelt und ich erwidere dieses sehr liebevoll. Ich atme noch einmal durch und dann fange ich an zu spielen. Es gibt sanfte Teile, schnelle, traurige, wütende, doch vor allem sehr melodische. Ich hoffe, dass die Musik vermitteln kann wie glücklich mich diese Beziehung macht. Wie glücklich sie mich macht.
Mein Herz schlägt so schnell, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich überhaupt irgendeinen Ton verstehen kann, wenn er beginnt zu spielen. Ich bin aufgeregt. Sehr aufgeregt. Meine Hände streichen ein, zwei, drei Mal über die weichen, samtigen Polster der Sessellehnen, die eigentlich dazu da sind die eigenen Arme abzulegen und zu entspannen, doch von Entspannung kann gerade keine Rede sein. Meine Handinnenflächen kribbeln – nicht nur die Reibung, sondern gewiss weil mein Herz das Blut so rasch durch meinen Körper pumpt. Mein Blick ist auf ihn gerichtet. Er hat sich bereits auf den Hocker gesetzt, den wir vor einiger Zeit zusammen erstanden haben. Sein Blick ist auf die Tatstatur gerichtet und er bewegt gerade seine Finger, wie er es immer tut bevor er zu spielen beginnt. Es ist keine Geste, wie man sie von Sportlern kennt, die vor dem Beginn einer Übung ihre Hände schütteln, sondern nur ein ganz kurzer Moment, in welchem er sie bewegt, wie er es manchmal auch tut, wenn wir miteinander geschlafen haben und er sich festgehalten hat – so als würde er ausprobieren, ob seine Finger noch funktionieren oder dagegen angehen wollen das sie kribbeln. Vielleicht kribbeln sie tatsächlich? Vor Aufregung? Vor Spannung? Vor lauter Vorfreude? Meine Kribbeln oft vor lauter Vorfreude kurz bevor sie ihn berühren. Ob er sich dessen bewusst ist, dass er das tut? Er tut das immer so unauffällig und schnell, dass es mir die ersten Male, die ich ihn habe spielen sehen, nicht aufgefallen ist. Inzwischen kenne ich jedoch die ein oder andere Angewohnheit von ihm. Sein Blick wandert noch einmal kurz zu mir und ich lächle ihn an – mir meine Aufregung nicht anmerken lassend. Einen kleinen Teil des Stücks kenne ich bereits, weil er mir diese per Sprachnachricht geschickt hat, aber vielleicht hat er noch etwas daran verändert. Sehr wahrscheinlich sogar, denn er ist ein Perfektionist. Ich ziehe meine Beine hoch auf den Sessel, wie ich es oft tue wenn ich hier sitze, und neige sie im angewinkelten Zustand ein bisschen seitlich. Meine eine Hand lege ich auf meine Knie, doch die andere bleibt auf dem Polster. Dann beginnt er zu spielen. Seine Finger bewegen sich über die Tasten als hätte er dieses Stück schon unzählige Male gespielt. Er fühlt es. Man sieht das nicht nur, sondern man hört es auch. Nach nur wenigen Sekunden schließe ich meine Augen und gebe mich dem Klang hin. Die Melodie erfüllt das Zimmer, nein, sie erfüllt die gesamte Wohnung und lässt keinen Platz mehr für andere Geräusche, wie Alltagslärm von der Straße oder meinen zu wilden Herzschlag. Ich höre die Musik. Ich spüre sie, atme sie ein und kann nicht damit aufhören zu lächeln. Mal ist das Stück schnell und mal langsam, so wie unsere Beziehung. Stürmisch, wild, aber auch liebevoll und zärtlich. Da kommt eine Stelle an der ich beinahe spüre, wie er mir über die Wange streichelt. Wie seine Fingerspitzen meine Haut dazu bringen zu kribbeln, wenn er mir eine Strähne meines Haares von der Schläfe hinter mein Ohr streichelt. Es preschen so viele unterschiedliche Gefühle auf mich ein, die ich an Situationen festmachen kann – wir zwei vor dem Supermarkt, wir beide in der Gasse und er küsst mich, wir die im Sonnenschein auf der Wiese liegen oder auch wie wir hier auf diesem Klavier miteinander schlafen. Wie er mir über den Rand seiner Sonnenbrille hinweg einen Blick zu wirft. Wie ich seine Nasenspitze küsse. Ich atme einmal tief durch und öffne meine Augen wieder, während ich gegen ein Gefühl in meinem Hals anschlucke, welches mich wissen lässt, dass ich in den nächsten Sekunden lieber nicht versuchen sollte zu reden, weil sonst nur ein Schluchzen aus meinem Mund kommt. Vielleicht gesellt sich dieses Stück zu meinen liebsten Klängen – dem Geräusch seines Herzschlages, welchem ich mit meiner Wange auf seiner Brust gedämpft lauschen kann, oder auch dem warmen Klang seines Lachens. Ganz sicher sogar!
Tatsächlich habe ich sie gerade vollkommen ausgeblendet. Ich will, dass es perfekt wird. Sie hört dieses Stück das erste Mal und da muss es perfekt sein. Mein Blick geht immer wieder zu den Noten, die vor mir sind. Sie sind noch nicht einmal ordentlich abgeschrieben und man sieht auf den Zetteln noch die Berichtigungen, die ich im Nachhinein vorgenommen habe. Dieses Stück fühlt sich richtig und gut an. Wie es sich im Endeffekt anhört, kann nur sie entscheiden. Es ist etwas Kunst, wenn es etwas in einem Menschen bewegt und ich hoffe, dass dieses Stück etwas in ihr bewegt, sie berührt und ihr genauso viel bedeutet wie mir. Meine Gefühle werden widergespiegelt. Meine Gefühle für sie. Es ist meine Art mich auszudrücken, was andere vielleicht mit Worten machen können oder mit Bildern, versuche ich über die Musik. Und ich will, dass sie sich geliebt fühlt, wenn sie diese Töne hört und wenn sie meinem Spiel lauscht. Ich würde wirklich gern zu ihr schauen, doch sie lenkt mich ab. Das macht sie oft. Meistens lasse ich es mir nicht anmerken. Ich kann Klavier spielen. Ich kann sehr gut Klavier spielen. Ich kann es sogar spielen, wenn sie nackt auf mir sitzt und mich küsst. Doch dieses Stück ist auch für mich neu, in vielerlei Hinsicht. Darum konzentriere ich mich beim Spielen. Es beginnt und endet mit dem Ton, den sie damals zuerst auf dem Klavier gedrückt hat. Das wird ihr wahrscheinlich nicht auffallen, doch mir war das wichtig. Als ich fertig bin, atme ich einmal tief ein und aus und schaue auf die Noten vor mir. Dann geht mein Blick zu ihr. Was wenn sie es hasst? Was wenn sie es nicht spürt? Vielleicht gefällt es ihr gar nicht? Mein Blick sucht den ihren und er verrät mir, dass diese Fragen Blödsinn sind. Sie hat es gespürt. Sanft lächle ich sie an. "Komm her. Ich will es dir zeigen." Dieses Stück sind wir und ich möchte, dass sie alles darüber weiß.
Meine zittrigen Finger berühren ihn an seiner Schulter als ich neben ihm zum Stehen komme. Nicht nur meine Finger, sondern auch meine Beine sind zittrig. Meine Zehen kribbeln. Es fühlt sich an als würden tausende Schmetterlinge mit ihren Flügeln hauchzart meine Haut streicheln. Klingt meine Stimme ebenso flatterig als ich leise flüstere: „Das war…“ Mir will kein passendes Wort einfallen. Welterschütternd oder perfekt beschreiben es nicht einmal ansatzweise. Jedes Wort, dass ich benutzen könnte, um es zu beschreiben, erscheint mir zu schwach, zu farblos zu nichtssagend. Ich kann keines dieser Worte beschreiben für etwas, dass mich schwach gemacht hat, dass mich gleichermaßen so starke Gefühle empfinden lassen, dass mich vergangene Momente mit ihm farbenfroh hat noch einmal durchleben lassen und mir so viel über das gesagt hat, was dieser Mann scheinbar für mich empfindet. Er hätte doch solch ein Stück nicht schreiben können, wenn er nicht eben solche Gefühle für mich hätte, wie ich für ihn, oder? Wenn er unsere Beziehung nicht genauso spüren würde wie ich. Meine Finger gleiten ein Stück von seiner Schulter hinab in die Richtung seiner Brust und drücken sanft zu. Ich halte mich an ihm fest, während ich mich ein Stückchen zu ihm hinunter beuge, um mir das anzusehen was er mir zeigen möchte. Mein langes Haar streift seine Schulter, was er durch den Stoff seines Oberteils gewiss gar nicht spüren wird. Mein Kopf ist direkt neben dem seinen. Würde ihn nur ein Stückchen weiter nach links bewegen, würden sich unsere Wangen berühren. Auch das hat mich dieses Stück spüren lassen – all dieses kleinen, wie zufälligen sanften Berührungen, die wir mal bewusst und ganz oft unbewusst austauschen, weil wir die Nähe des jeweils anderen suchen. Ich brauche diese Nähe zu ihm inzwischen genauso sehr wie Luft zum Atmen, wie Sonnenstrahlen auf meiner Haut, die mich wärmen oder das Gefühl kühlen Wassers, dass meinen Hals hinabrinnt. Meine Zungenspitze streift meine Lippen und ich registriere, auch wenn ich keinen Gedanken daran verschwende, dass mein Mund ganz trocken ist. Ob er meinen Herzschlag hören kann? Wenn er es könnte, ihn hören oder spüren, dann wüsste er genau wie sehr mich sein Stück berührt hat, wie glücklich es mich gemacht hat es zu hören und was ich mit Worten nicht ausdrücken kann.
Meine linke Hand legt sich auf die ihre, die zu meiner Brust geglitten ist. Sie steht hinter mir und hat sich zu mir gebeugt, um sich anzuhören was ich ihr erzählen möchte. Manchmal erzähle ich ihr Dinge über Musik, die sie wahrscheinlich nicht wirklich interessieren. Doch sie hört mir zu - wirklich. Sie schaltet nicht einfach ab, sondern sie hört mir zu, wenn ich mich in Rage reden und nicht aufhören kann, weil es mich selbst so begeistert. "Ich werde dich jetzt nicht ewig langweilen. Keine Angst." Ich drehe meinen Kopf leicht und hauche ihr einen kleinen Kuss auf ihre Wange. Sie hat noch nicht wirklich was gesagt und damit sagt sie mehr als sie mit Worte jemals könnte. Ihre Augen haben es mir verraten, ihr Schweigen und auch das leichte Zittern ihrer Finger, das ich unter meinen spüre. Es gefällt ihr. Nicht nur das. Es lässt sie etwas spüren und ich hoffe, dass es genau das ist, was ich spüre, wenn ich das Stück spiele. "Siehst du?" Ich deute auf die Noten vor mir - auf den ersten und den letzten Ton. "Es ist der Ton, den du damals das erste Mal auf dem Klavier gedrückt hast. Ich will ihn gerade spielen, als ihre Hand sich auf die Tasten legt und sie exakt diesen Ton drückt. Sie weiß es also noch. "Genau." Man hört meiner Stimme an, wie sehr ich lächle, wie glücklich und verliebt ich gerade bin. "Ich habe ganz grob angefangen... das Wiedersehen, der Kuss im Grunge, die ersten Treffen." Während ich spreche deute ich auf die Noten. "Die Tage ohne dich." Selbst wenn man keine Noten lesen kann, kann man erkennen, dass diese anders sind. Sie sind tiefer in den Zeilen, sehen anders aus. "Der Supermarkt, die Aussprache, unser erstes Mal." Wieder drehe ich meinen Kopf und sehe sie von der Seite her an. Wie aufmerksam ihre Augen auf die Noten gerichtet sind, wie interessiert sie ist. Mein Herz schlägt so schnell, dass es wahrscheinlich gleich aus meiner Brust springen wird. Dann sehe ich auch wieder auf das Papier. "Der Vorfall im Vanilla." Ich zeige es ihr und es ist genau eine Note, die extrem heraussticht. Dann spiele ich es ihr vor - etwas langsamer, da ich auch nur eine Hand freihabe. Man hört die hellen Töne, den einen dunklen und danach wird das Spiel klarer und viel heller. "Die Zeit danach, die uns so extrem miteinander verbunden hat." Die Drogen. Ihr Finger ist ein Stück weiter vor der Stelle, die wir eben besprochen haben und ich nicke. "Ja." Sie hat es erkannt. Die nicht so guten Sachen sind langsamer, tiefer und das erkennt sie auf dem Papier. Dann spiele ich etwas, was relativ weit am Ende ist. Es ist eine kurze Melodie, die sich mehrmals wiederholt. "Als du mir gesagt hast, dass du mich liebst." Ich spiele sie immer wieder und wieder. Es mit mein liebster Teil in dem Stück, vor allem weil die kleine Tonabfolge auch ohne den Rest des Stückes funktioniert. "Es ist für dich." Nun sehe ich sie an und auch sie bewegt ihren Kopf, um mich anzusehen. "Auch wenn das jetzt sehr kitschig klingt: aber das ist meine Liebe für dich. Sie ist ehrlich, sie ist da. Wirklich. Sie ist keine Alternative oder nur eingebildet. Sie hat mich dazu gebracht dies zu schreiben. Es hat sich noch nie etwas so echt angefühlt wie dieses Stück. Ich schenke es dir. Es ist allein dein."
Es ist für dich. Mit jedem weiteren Wort aus seinem Mund füllen sich meine Augen mehr mit Tränen. Ab einem gewissen Punkt, ab welchem es nicht mehr wenige sind, sehe ich ihn nur noch durch einen Schimmer – als würde ein Weichzeichner über seinen Augen, seinem Mund, seiner Nase, seinem ganzen Gesicht schimmern. Ich versuche gar nicht erst die Tränen wegzublinzeln, denn die Tränen glitzern schon an meinen Wimpern. Ich rolle meine Lippen übereinander und schlucke direkt daraufhin. Es ist nicht so wäre da viel Spucke in meinem Mund, ganz im Gegenteil, sondern versuche ich gegen den Kloß anzukommen, der mich in wenigen Sekunden, wenn es mir nicht gelingt gegen ihn anzuschlucken, dazu bringen wird ein Schluchzen von mir zu geben. Wann war ich das letzte Mal derart gerührt? Wann hat mich das letzte Mal etwas so berührt? Es ist nicht viele Momente her. Sein Stück. Die Erklärung der Noten. Dieser Augenblick, welcher sich zieht seitdem er die erste Note gespielt hat, fühlt sich so überwältigend an, dass da zum Glück ohnehin keine Worte sind, die ich versuchen könnte aus meinem Mund zu bekommen. So werde ich nicht schluchzen. So werde ich nicht – dann passiert es doch. Ich richte meinen Oberkörper wieder auf, richte meinen Blick gen Decke, weil ich hoffe, dass es gegen die Tränen hilft und stemme meine zittrigen Hände in meine Hüften. Ich versuche gerade meine Lungen mit einem Atemzug zu füllen als ein Laut über meine Lippen schlüpft, der verdächtig nach einem Schluchzen klingt. Schon ist er auf den Beinen und stellt sich neben mich. Ich spüre, wie seine Finger sich behutsam um meine Oberarme schlingen und er mir bedeutet mich zu ihm zu drehen – was ich auch tue. Ich brauche noch eine Sekunde, bis ich meinen Blick von der weißen Zimmerdecke lösen und auf ihn richten kann. Als sich unsere Blicke treffen, ist es endgültig um mich geschehen. Sein Blick ist so liebevoll, so warm und aufmerksam auf mich gerichtet, dass es mein Herz einen so kräftigen Schlag in meiner Brust tut, dass es meinen Körper erschüttert. Als würde diese Erschütterung an meinen Wimpern rütteln, fallen auch schon die ersten Tränen, wie morgens Tautropfen von Grashalmen, hinab auf meine Wange. „Oh verdammt… es… es tut mir leid. Es ist so…“, wispere ich mit brüchiger Stimme. Seine Arme schließen sich um mich und die meinen schlingen sich um die Mitte seines Körpers. Ich schmiege mich so eng ich nur kann an ihn und spüre sofort die Wärme seines Körpers, die sich so oft anfühlt als würde sie mich nicht nur vor Kälte behüten. Mein Gesicht schmiegt sich an seinen Hals und ich gebe es auf gegen die Tränen anzukämpfen.
Meine rechte Hand streicht langsam über ihren Rücken, meine linke hält sie einfach nur fest. Ich habe einen riesigen Kloß im Hals. Ich weiß wieso sie weint und ich möchte sie gar nicht trösten. Sie soll ihre Gefühle rauslassen - alle die sie hat. Wahrscheinlich haben sich in den letzten Tagen wieder einige angestaut, die sie nicht loslassen konnte, weil sie auf mich Rücksicht genommen hat. Und sehr wahrscheinlich habe ich ihr gerade ein Geschenk gemacht, das sich nicht beschreiben lässt. Es ist als würde ich ihr mein Herz schenken. Ich kann es nicht einmal selbst beschreiben. Diese Musik habe ich geschaffen und ich bin wirklich stolz darauf, denn ich mag das Stück selbst. Hinzukommt die Bedeutung. Und wenn meine Musik - meine Kunst - sie so sehr berührt, dass sie weint, dann habe ich es wirklich gut gemacht. Mein Herz hämmert gegen meine Brust und ich halte meine wundervolle Mia in meinen Armen. Ganz leicht lehne ich meinen Kopf an ihren und schließe meine Augen. Ich spüre ganz genau wie ihr Körper unter dem Schluchzen erbebt, wie sie sich näher an mich schmiegt und die Feuchtigkeit ihrer Tränen, die mein Shirt durchnässen. "Es gibt nichts wofür du dich entschuldigen musst." Meine Stimme ist nur noch ein Flüstern. "Kunst soll Gefühle auslösen und wenn das deine Gefühle gerade sind, dann ist alles perfekt." Ich drücke sie noch etwas enger an mich heran und bewege meinen Kopf leicht, um sie auf ihr Haar zu küssen. Es riecht nach ihrem Haarspray. Sie hat es heute früh zurecht gemacht, denn auch sie wollte für den Tag ordentlich aussehen. Als würde sie jemals unordentlich aussehen. Heute früh war da so viel Angst. Auch sie hatte die. Ich hatte sie. Wir beide hatten Angst vor diesem Tag. Doch jetzt ist da nur noch Liebe. Ich dachte wirklich, dass ich schon geliebt habe. Doch das fühlt geradezu lächerlich an im Vergleich zu dem, was ich für sie empfinde. Mia. Die Frau von der Bar, mit der ich diese wundervolle Nacht hatte. Die nicht in dem Stück vorkommt. Ich habe mich bewusst dazu entschieden, denn das was seit ein paar Monaten zwischen uns passiert, hat nichts mit dieser Nacht zu tun. Dank dieser Nacht wussten wir unsere Namen. Alles andere war neu - selbst der Sex. "Je t'aime tellement. Je t'adore. J'adore le sol sur lequel tu marches. Tu es à moi. Je suis à toi. Mon amour." Ich flüstere ihr die liebevollen Worte in ihr Ohr, die so viel schöner klingen in dieser Sprache, die sie gar nicht spricht. Doch das muss sie gar nicht. Sie fühlt es, oder? Sie fühlt gerade mich, so wie ich sie fühle.
Durch den Schleier all der Gefühle, die ich gerade empfinde, höre ich seine Worte. Seine Stimme schenkt mir ein Gefühl der Geborgenheit, das sich nicht mit Worten beschreiben lässt. Der Klang seiner Stimme und die Worte, die er mir so zärtlich ins Ohr flüstert. Sein Atem streift hauchzart meine Haut. Ich kann nicht jedes Wort verstehen, was nicht daran liegt, dass er im Flüsterton mit mir spricht, sondern daran das mein Französisch, obwohl ich bereits seit Wochen in jeder freien Sekunde übe, noch nicht einmal ansatzweise perfekt ist. Doch ein bisschen verstehe ich – zum Teil, weil ich die Worte bereits aus seinem Mund kenne und er sie mir auf mein Nachfragen hin übersetzt hat und zum Teil, weil ich sie bereits gelernt habe. Wie kann man nur in einem einzelnen Moment, auch wenn er schon so lange andauert, derart viel empfinden? Jedes Mal, wenn ich denke, dass ich mich nun wieder unter Kontrolle habe, hallen in meinen Gedanken Töne der Melodie wider, die er gerade für mich gespielt hat und vermischen sich mit seinen Worten und dem Gefühl seiner Umarmung. Es dauert eine ganze Weile, bis meine Tränen endlich soweit versiegt sind, dass ich meine Augen wieder öffne. Ich atme einige Mal sehr tief durch, bevor ich meinen Kopf gerade soweit bewege, dass ich mir sein Hemd anschauen kann. Meine Tränen haben den Stoff durchnässt und hier und da sieht man leider Spuren meiner Wimperntusche. Mein rechter Arm bewegt sich und ich hebe meine rechte Hand, um mit meinen Fingerspitzen über den Stoff mit den schwarzen Spuren zu streichen. Noch einmal atme ich tief durch und dann richte ich meinen Blick hinauf zu seinen Augen. Sein Blick mutet so warm und herzlich an, dass mir direkt wieder die Tränen kommen und ich vergrabe rasch mein Gesicht wieder an seiner Brust – leise lachend und schluchzend. „Je t'aime aussi, mon amour. Je… Je t'aime de tout… mon cœur.“, wispere ich ganz leise und auch ein bisschen unsicher bevor ich einen Kuss auf seine Brust hauche – den er hoffentlich trotz des Stoffs seines Oberteils spürt.
Sie scheint sich gar nicht wieder so richtig zu beruhigen. Was mich lächeln lässt. Es sind gerade unfassbar viele Gefühle. Sie scheinen nur so auf uns einzuströmen und sich um uns herum aufzutürmen, nur um sich dann auf uns zu stürzen. Keine Ahnung, ob ich jemals so gefühlt habe wie gerade. Ob ich jemals erahnen konnte, dass man so viele Gefühle für einen Menschen haben kann. Ich beobachte sie ganz genau, wie sie mit ihrer Hand über die nasse Stelle meines Shirts streicht. Wahrscheinlich sind dort auch Spuren ihrer Wimperntusche und sie kann sich sicherlich denken, dass mir das gerade total egal ist. Nur sie ist wichtig. Ihr Gesicht ist ganz nass und am liebsten würde ich ihr die Tränen wegwischen. Für einen kurzen Moment sehen wir uns an und da ist so viel Liebe in ihren Augen. Ich muss Luft holen und habe das Gefühl den Boden unter meinen Füßen zu verlieren. Mich hat noch nie jemand so angesehen. Doch dann schmiegt sie sich wieder an sich und ich muss etwas schmunzeln. Bis ich erstarre. Es kam schon vor, dass sie französische Worte gesprochen hat. Sie hat diese nachgesprochen, wenn ich sie zu ihr gesagt habe. Doch sie hat noch nie von sich aus zu mir etwas auf Französisch gesagt. Und mir ist durchaus bewusst, dass sie etwas zu mir gesagt hat, dass sie nicht von mir hat. Mein Herz schlägt wie verrückt. "Touche mon cœur." Sie hat das entscheide Wort gerade selbst benutzt und wird wissen,was es bedeutet. Dann spüre ich ihre Hand, wie sie sich auf mein Herz legt. Es schlägt nur für sie - das weiß sie, oder? Sie hat diese Worte gelernt - für mich. Mein Atem beschleunigt sich und da ist wieder dieses Lächeln. Dieses Lächeln, das nur sie mir auf die Lippen zaubern kann. "Du hast das für mich gelernt?" Ich bewege mich etwas und meine Hände greifen an ihre Wangen, um ihren Kopf anzuheben. Mein Blick findet den ihren und ich streiche sanft mit meinen Daumen über ihre Wangen. "Ma merveilleuse Mia." Ich beuge mich zu ihr hinunter und meine Lippen streichen sanft über die ihren. Diese Zittern genauso wie meine, oder? Trotz all der Gefühle, haben wir uns noch nicht geküsst. SO viele Gefühlen waren das. Doch jetzt möchte ich nichts sehnlicher als sie Küssen und mich dafür bedanken, dass sie für mich geweint hat, dass sie diese Worte gelernt hat und dass sie mich liebt. Vor allem dafür, dass sie mich liebt. Und somit legen meine Lippen sich auf die ihren und ich küsse sie so voller Liebe und so zärtlich, dass sie diesen Kuss hoffentlich nie vergisst.
Mit meiner Hand auf seiner Brust, um ganz genau zu sein, denn das ist von Bedeutung, auf der Stelle, unter welcher sein Herz in einem wundervollen Takt schlägt, schaue ich zu ihm auf. Es fühlt sich an als würde sein Herzschlag sanft die Innenfläche meiner Hand streicheln – rhythmisch und sehr beruhigend, obwohl es so schnell klopft. Es ist nicht die Geschwindigkeit der Schläge, die eine beruhigende Wirkung auf mich hat, sondern die Gewissheit das jeder einzelne dieser Herzschläge mir gilt. „Oui.“, wispere ich noch immer, weil meiner Stimme nicht zu trauen ist. Gewiss würde sie noch zittrig, wie bereits orangene, vertrocknete Blätter an beinahe kahlen Ästen, die von einem Windstoß zum Zittern gebracht wurden, klingen. Immerhin weine ich nicht mehr. Er hält meine Wangen behutsam in seinen Händen und gewiss sind da noch Tränen, die meine Haut benetzen, aber ihn scheint das nicht zu stören. Ganz und gar nicht. Seine Daumen streicheln sogar über meine Wangen und trocknen so zumindest teilweise die feuchten Spuren meines Gefühlsausbruchs. Meine wundervolle Mia. Seine Worte, wenn auch anders als in meinen Gedanken, nämlich auf Französisch, zaubern mir ein kleines Lächeln auf meine Lippen. Er bewegt sich. Sein Gesicht kommt dem meinen immer näher und mit einem tiefen Atemzug, den ich nicht bewusst nehme, bereitet sich mein Körper darauf vor gleich nicht mehr zu atmen. Ich bin mir jedes einzelnen Millimeters bewusst. Sein Atem ist es, den ich als erstes auf meinen Lippen spüre. Dann streift seine Nasenspitze hauchzart die meine. Ich habe einen kurzen Blick auf seine so weichen Lippen geworfen, doch bevor sich meine Augen schließen, schaue ich unter nur noch halb geöffneten Lidern noch einmal zu seinen Augen. Unsere Blicke treffen sich und mein Herz explodiert in meiner Brust. Seine Lippen zittern, so wie wohl auch meine. Mein Mund ist einen winzigen Spalt weit geöffnet und mit geschlossen Augen bewege ich minimal meinen Kopf. Darf man das überhaupt eine Bewegung nennen? Meine Lippen bewegen sich meinem Gefühl nach auf jeden Fall den seinen entgegen als er seinen Mund auf meinem bettet, um mich mit einem Kuss all das schmecken zu lassen, was er mich vorher in Form von Musik und Worten und Umarmung wissen lassen – dass er ich liebt. Meine rechte Hand bleibt auf der Stelle seiner Brust ruhen, unter der sein Herz schlägt und ich bilde es mir vielleicht nur ein, aber ich könnte schwören, dass es für einen Schlag aus dem Takt geraten ist. Damit wäre es in guter Gesellschaft, denn meines ist das auf jeden Fall. Von der ersten Sekunde an erwidere ich den Kuss voller Zärtlichkeit und ehrlicher Gefühle – Liebe.
Dieser Kuss tut sehr gut. Es fühlt sich ein bisschen so an, als würde alles wieder geordnet werden. Wir haben uns gerade unsere Gefühle in einer Art und Weise mitgeteilt, die wir noch nie zuvor genutzt haben: ich durch die Musik und sie durch die französische Sprache. Das jetzt fühlt sich vertraut an. Wir haben schon so viele verschiedene Küsse ausgetauscht. Kleine, flüchtige. Geheime in dunklen Ecken. Wilde und leidenschaftliche. Schmerzvolle, besitzergreifende. Liebevolle und zärtliche. Wir besiegeln gesprochene Worte und Abmachungen mit Küssen. Es war der Kuss im Grunge, der uns näher gebracht hat. Es waren viele Küsse, die wir danach ausgetauscht haben, bevor wir überhaupt miteinander geschlafen haben. Es sind die Küsse, die wir uns geben, bevor wir schlafen oder das Haus verlassen. Die Küsse, wenn wir uns sehen. Die Küssen, wenn wir uns beruhigen wollen. Küsse des Abschieds und des Wiedersehens. So viele Küsse und dennoch fühlt sich jeder weitere Kuss an, als wäre er der beste meines Lebens. Dieser Kuss hier bringt alles wieder in Ordnung. Das ganze positive Chaos unserer Gefühle wird greifbarer und vertrauter. Zumindest für mich. Aber auch sie scheint sich zu entspannen. Ihr Körper, der eng an meinen geschmiegt ist, ist entspannter. Es legt sich eine Ruhe um uns beide, die ich gerade sehr genieße. Ich drücke sie noch fester an mich heran und höre nicht auf sie zu küssen. Es dauert eine süße Ewigkeit, bis wir beide Luft brauchen. Unsere Lippen lösen sich voneinander und ich lehne meine Stirn an ihre. "Lernst du wirklich französisch?" Ich lächle und gebe ihr noch einen winzigen Kuss. "Du bist wirklich unglaublich." Es ist eine schwere Sprache. Doch überhaupt: dass sie wirklich eine Sprache für mich lernt. Und sie hat diese schon soweit gelernt, dass sie mir sagen kann wie sehr sie mich liebt. "Comment puis-je avoir une telle chance?" Ich schmunzle etwas. "Wie kann ich nur so ein Glück haben?" Keine Ahnung womit ich sie verdient habe. Das kann ich mir wirklich nicht erklären. Doch ich bin dankbar dafür und ich werde sie lieben. Ich werde sie lieben wie sie es verdient. "Lass mich kurz. Nur eine Sekunde." Ich wollte mich von ihr lösen, doch sie hat mich festgehalten. Jetzt lässt sie mich allerdings los und ich sehe ihr noch einen Moment in ihre Augen, bevor ich nur zwei Schritte zu dem Esstisch gehe, auf dem eine Taschentücherbox steht. Ich nehme eines heraus und bin direkt wieder bei ihr und beginne sanft ihr Gesicht zu säubern. Ihre Wimperntusche hat sich überall verteilt. Es stört mich überhaupt nicht. Sie ist immer noch die schönste Frau der Welt. Dennoch möchte ich das gerade tun. Aufmerksam beobachte ich mein Tun, wohl wissend, dass sie mich ansieht.
Sein aufmerksamer Blick ist, anders als der meine, der ihn zu jeder Sekunde beobachtet, nicht auf meine Augen gerichtet, sondern auf sein Tun. Seine Finger, die ein weiches Taschentuch halten, tupfen sanft meine Haut trocken. Er kümmert sich um die Spuren meiner Tränen auf meinen Wangen und sogar noch behutsamer direkt unter meinen Augen. Gewiss ist meine Haut gleich nicht nur trocken, sondern auch von dem Schwarz meiner Wimperntusche befreit. Er lässt sich Zeit. In diesem Moment braucht es keine Eile oder Hektik. Sowohl mein eigener als auch sein Herzschlag haben während des Kusses beruhigt. Mit jeder weiteren Sekunde, die wir einander unsere Liebe haben schmecken lassen, habe ich gespürt, wie sich sein Herz beruhigt hat. Das ich sowohl die eine als auch die andere Wirkung auf ihn habe kann ich gar nicht richtig fassen. „Ich… habe mich noch nie… so geliebt gefühlt.“, flüstere ich so leise, dass ich gar nicht recht sicher bin, ob er mich verstanden hat. Doch dann halten seine Finger inne und sein Blick trifft auf den meinen. Er hat mich verstanden. „Tu… m'aimes.“ Nachdem ich ihm gerade auf seine Frage hin erzählt habe, dass ich vor einiger Zeit damit begonnen habe Französisch zu lernen, versuche ich mich noch einmal daran. Eigentlich hatte ich ihm noch gar nicht davon erzählen wollen. Ich hatte eigentlich abwarten wollen bis ich die Sprache, die aus seinem Mund wie Musik, wie flüssiges Glück, klingt, besser sprechen kann als ich es jetzt tue und natürlich bis ich mich ein bisschen sicherer fühle. Doch obwohl das zum jetzigen Zeitpunkt beides noch nicht der Fall ist und ich mir mehrfach Gedanken darüber gemacht habe, wann der rechte Moment kommen könnte, habe ich gerade mein Herz entscheiden lassen. In dem Augenblick ist es einfach passiert. Dieses unglaubliche Geschenk an Gefühlen, dass er mir heute gemacht hat, wollte ich wenigstens mit einem kleinen erwidern. Ich bin mir der Tatsache bewusst, dass unsere Beziehung so nicht funktioniert. Es wird nichts aufgewogen. Es ist ein Geben und ein Nehmen ohne irgendein Maß. Nachdem er mir ein kleines Lächeln geschenkt hat, macht er sich noch daran auch die letzten Tränenspuren zu beseitigen. Als er fertig ist und gerade seine Hand fortnehmen will, greife ich danach. Meine Finger legen sich erst um sein Handgelenk als ich ihn stoppe, rutschen dann jedoch noch ein bisschen höher als ich sie zu meinem Mund führe. Er hält das Taschentuch zwischen seinen Fingern und so hauche ich die kleinen Küsse, vier an der Zahl, auf seine Fingerknöchel. Erst als ich damit fertig bin, gebe ich seine Hand wieder frei. Er bringt das Taschentusch nicht weg, lässt ich nicht allein, sondern steckt es in seine Tasche. Ich sehe nicht hin, weil ich ihn so wie die ganze Zeit über, ins Gesicht blicke. „Spielst du es noch einmal für mich?“ Wir stehen da, uns gegenüber und aneinander geschmiegt, und sehen uns an. „Bitte.“ Ich werde ihn wohl von heute an noch unzählige Male darum bitten dieses Stück für mich zu spielen. Es ist, seitdem ich es das erste Mal gehört habe, mein allerliebstes Musikstück auf der Welt und ich bin mir sehr sicher, dass sich das auch niemals wieder ändern wird. Nachdem wir uns noch einen Moment angeschaut haben, nicht lange, nur gerade so dass wir beide noch ein, zwei Mal ein und ausatmen können, setzen wir uns nebeneinander auf seinen Hocker. Dieses Mal möchte ich ihm ganz nah sein, wenn sich seine Finger auf den Tasten bewegen und er schickt mich nicht fort. Er schenkt mir von der Seite noch ein Lächeln und zwinkert mir zu, was mir ein leises Lachen entlockt - was sofort verstummt als er beginnt.